Entdeckung des Dschungelfriedhofs

Am nächsten Morgen warteten der Knutschpapagei und die Liebste auf Alwin. Sie flogen bereits, bevor ich überhaupt aufgestanden war, in der Wohnung nervös hin und her. Später fragten sie mich immer wieder, wie spät es sei. Doch ich konnte nur wiederholen, dass zur letzten Uhrzeit erst fünf Minuten vergangen waren. Und endlich: „Tock, tock tock!“ klopfte Alwin mit dem Schnabel an das Küchenfenster. Der Knutschpapagei und die Liebste flogen beide sofort auf meine Schultern, ich öffnete das Fenster und der Knutschpapagei begrüßte freudig Alwin, der auf dem Fensterbrett stehen blieb. Alwin grüßte fröhlich zurück. Er schien auch etwas aufgeregt zu sein und tippelte auf seinen Krallen von rechts nach links und wieder nach rechts. Dann stellte der Knutschpapagei seinem neuen Freund seine Liebste vor, die sogleich einen kleinen Knicks andeutete. Alwin revanchierte sich mit einer Verbeugung. Die beiden Papageien setzten sich danach zu Alwin auf das Fensterbrett. Ich gab dem Knutschpapagei noch einen kleinen Beutel mit gehackten Walnüssen als Proviant mit, den dieser sogleich mit seiner rechten Kralle packte. Und schon starteten die Drei wie auf ein Kommando in den Himmel und verschwanden bald hinter den Dächern der an unseren Garten angrenzenden Häuser.

Die Liebste und der Knutschpapagei blieben fast den ganzen Tag weg. Erst gegen frühen Abend landeten sie wieder auf dem Fensterbrett. Das Fenster stand noch offen, sie konnten also selbständig eintreten. Ich stand von meinem Arbeitsplatz auf, als ich sie hörte und kam ihnen neugierig entgegen. Die Liebste flog gleich auf meine Schulter und knabberte an meinem Ohr. Der Knutschpapagei musste erst einmal Wasser trinken, er war etwas verausgabt.
„Na, wie war’s?“ fragte ich die Liebste.
„Aufregend, toll! Das war ein schöner Ausflug!“ antwortete sie.
„Wo seid Ihr denn gewesen? Gibt es wirklich einen Dschungel in Berlin?“ Ich konnte mir das nicht wirklich vorstellen.
„Ja!“ sagte der Knutschpapagei, der nun auf meine andere Schulter geflogen kam. „Ein richtiger Dschungel mit haushohen Rhododendron-Büschen, verwilderten Efeu-Ranken, undurchdringlichem Gestrüb, nur ein paar begehbare Pfade zwischen uralten Bäumen.“ Der Knutschpapagei lachte und zwinkerte dabei mit den Augen.
„Du nimmst mich doch auf den Arm, Knutschi!“ fragte ich ungläubig.
„Nein, er hat recht.“ stimmte die Liebste mit ein. „Man konnte kaum durch das Dickicht durchfliegen. Nun, für uns ist das eigentlich kein Problem, für Alwin auch nicht, aber es ist durchaus anspruchsvoll.“
„Knutschessa, Du fällst mir auch noch in den Rücken.“ Ich spielte den Beleidigten.
„Zwischen den Bäumen stehen aber auch noch Tempel, aufwändige Skulpturen, Reliefs und so weiter. Manche sind gar nicht zu erkennen, weil sie komplett zugewuchert sind.“
„Knutschessa, jetzt reicht es mir aber, veralbern kann ich mich auch selber! Seid Ihr mal eben nach Mexico geflogen und habt die Inka-Stätten besucht?“
Die Pagageien lachten und freuten sich, dass sie mich foppen konnten. „Nein, wir sind in Berlin geblieben.“ Der Knuschpapagei bemühte sich um eine ernste Stimme, „Weißt Du, wir sind immer Richtung Süden geflogen, zunächst die Schlossstraße entlang, dann in den Hindenburgerdamm …“
„Ach Liebster, jetzt halte uns nicht mit einer Wegbeschreibung auf!“ unterbrach ihn die Liebste. Der Knutschpapagei stutzte kurz und sagte dann: „Aber ich will ihm doch bloß erklären, wo wir waren.“
„Das kann er sich später noch auf dem Stadtplan anschauen, wo wir lang geflogen sind.“ sagte sie zu ihrem Liebsten gewandt und sprach dann weiter zu mir: „Wir waren auf dem Parkfriedhof in Lichterfelde West. Kennst den nicht schon?“
„Ne, aber ich habe schon von ihm gehört.“ antwortete ich. „Ist das etwa ein Dschungelfriedhof?“
„Jaaa!“ riefen beiden wie aus einem Mund. „Eigentlich bräuchte man eine Machete, um sich durch die Äste zu schlagen.“ sagte der Knutschpapagei und die Liebste stimmte ihm mit einem kräftigen Nicken zu. „Nicht das ganze Areal ist so ungeordnet, es gibt auch einen Teilbereich, auf dem die aktuellen Gräber stehen. Dort ist alles sehr gepflegt.“
„Und langweilig!“ ergänzte die Liebste trocken.
„Im älteren Bereich des Friedhofs sind am Boden sehr viele Gräber zwischen einem uralten Baumbestand zu sehen. Die sind zum Teil  über achtzig Jahre, ja, die ältesten Gräber sind sogar hundert Jahre alt. Früher hat man die Grabsteine – manchmal sind es sogar kleine Tempel oder Gruften – sehr viel aufwändiger gestaltet. Traurige Männer, Frauen oder Engelsfiguren stehen, sitzen oder liegen an oder auf der Grabstelle in Stein gemeißelt. Fast jedes einzelne Grab erzählt seine Geschichte, die Geschichte vom Toten und von seinen Angehörigen. Ein Grab, das wir sahen, hatte zum Beispiel ein Relief, auf dem ein Greifvogel gegen die Sonne, gegen Sonnenstrahlen fliegt. Und auf dem Grab selbst steht der Beruf des Toten. Nun rate mal, was für ein Beruf das war?“
„Keine Ahnung.“ sagte ich gespannt. „Vielleicht Ornithologe?“
„Falsch,“ sagte der Knutschpapagei, „Flugkapitän. Der Tote war mit seinem Flugzeug abgestürzt!“
„Mir gefiel ein anderes Monument besonders gut.“ sagte dann die Liebste, „Das bestand aus einer Wand mit Durchlässen zwischen vier Pfeilern und in der Mitte, zwischen zwei dieser Pfeilern, lag eine tote Person auf der Bahre, natürlich als Skulptur. Darum herum herrschte ein komplett grünes Chaos. Schöner kann man doch die Vergänglichkeit des Lebens kaum darstellen, oder?“ Sie schaute dem Knutschpapagei fragend an. „Ja, das Grab gefiel mir auch.“ stimmte er ihr nachdenklich zu.

Der Knutschpapagei, die Liebste und Alwin entdecken den Parkfriedhof Lichterfelde

„Wir haben noch ein weiteres Grab aus den letzten Jahren gefunden, das Dich  interessieren könnte.“ sagte der Knutschpapagei.
„Kennst Du Drafi Deutscher?“ fragte mich die Liebste.
„Ja, natürlich. Liegt der etwa auch auf diesem Friedhof?“ fragte ich erstaunt.
Der Knutschpapagei hob die Brust, legte theatralisch seinen rechten Flügel darauf, den Kopf in den Nacken geschoben, und fing inbrünstig an zu singen: „Marmor, Stein und Eisen bricht …“
„… aber unsere Liebe nicht!“ stimmte sofort die Liebste in das Duett mit ein, nicht weniger inbrünstig und theatralisch.
„Wie geht denn der Text weiter?“ fragte ich lachend, das war ja ein Schauspiel!
„Damm, damm …, damm, damm!“ kam es wieder wie aus einem Schnabel.
„Woher kennt Ihr denn Drafi Deutscher?“ fragte ich erstaunt, nachdem sich beide belustigt wieder die Flügel geordnet hatten.
„Na, von Deiner Liebsten!“ rief der Knutschpapagei. Er betonte das „Deiner“ besonders stark. „Sie hört häufig Schlagermusik, wenn Du nicht zu Hause bist! Daher kennen wir das Lied und eben auch Drafi Deutscher.“
„So, so!“ brummte ich mehr in mich hinein. Schlager waren nicht so sehr mein Fall. „Und wie war es eigentlich mit Alwin?“, versuchte ich das Thema zu wechseln.
„Sehr nett,“ sagte die Liebste begeistert.
„Alwin lässt übrigens schöne Grüße ausrichten, er hatte sich sehr über den Proviant gefreut.“ sagte der Knutschpapagei.
„Na, da freue ich mich aber. Richte ihm bitte ebenfalls schöne Grüße aus. Beim nächsten Mal gibt es mehr davon.“ sagte ich. Alwin ist ein interessanter Vogel, dachte ich mir. Ich nahm mir außerdem fest vor, demnächst den Parkfriedhof Lichterfelde selbst einmal zu besuchen.
„Dann nimmst Du uns aber mit, nicht wahr? “ fragte die Liebste, sie hatte wohl meine Gedanken gelesen. „Wir können Dir jetzt dort Einiges zeigen!“
„Das werde ich ganz sicher!“ antwortete ich ihr, gab beiden einen Kuss und versorgte sie danach mit frischem Futter, denn sie waren nach diesem langen Ausflug sicherlich sehr hungrig geworden.