Einerlei: demokratische Evolution der digitalen Welt

Der NSA-Skandal, der durch Edward Snowden aufgedeckt wurde, beschäftigt mich doch sehr. Was mich am meisten verwirrt, ist die komplette Lethargie, das phlegmatische Nichtreagieren der Bevölkerung auf diesen ungeheuren Missstand im Umgang mit unseren Persönlichkeits- und Freiheitsrechten. Ich bekomme das in meiner direkten Umgebung tagtäglich mit. Keinen interessiert es! Achselzucken, schlaue Sprüche wie „Das wussten wir doch alle vorher schon!“ oder Hilflosigkeit „Was soll ich schon daran ändern können?“ sind keine Seltenheit. Wie kann man sich dieses Phänomen erklären?

Sascha Lobo hat sich vor kurzem in seiner SPON-Kolumne folgendermaßen geäußert: „Das politische Empfinden zur digitalen Sphäre breitet sich schmerzhaft langsamer aus als die Nutzung des Internets. Die Werte einer digitalen Demokratie entstehen nicht von allein, nur weil eine demokratische Gesellschaft digitaler wird.“ Diese beiden Sätze haben mich sehr beeindruckt, weil die aktuelle Situation exakter nicht beschrieben werden kann. Es werden mühsam über Generationen und totalitäre Staaten hinweg erkämpfte gesellschaftliche Werte und gesetzliche Normen wie Privatsphäre, Meinungs- und Pressefreiheit uvm. schlicht und einfach missachtet und keiner reagiert darauf. Von der bundesdeutschen Regierungsseite, die uns eigentlich davor zu schützen hat, wird dies sogar noch devot hingenommen.

Vor allem aber der zweite Satz Lobos reißt einen wichtigen Aspekt an: Wenn wir uns in der digitalen Welt bewegen, befinden wir uns quasi noch in der Steinzeit, obwohl wir uns in der analogen Welt bereits in Jahrtausenden weiterentwickelt haben. Die Kommunikationsformen beispielsweise in Foren oder in Kommentaren zu Online-Artikeln muten häufig genug an, als ob Keulen am Lagerfeuer geschwungen und Frauen an den Haaren in die Höhle gezerrt würden. Jeder feinsinnige Kommunikationsstil, bei dem immer der Respekt vor der Gegenseite eine wichtige Rolle spielen sollte, wird über den Haufen geworfen. Hacker stehlen die Bankzugänge und Passwörter auf unseren Wegen durch das Gestrüpp der Bits und Bytes und ziehen uns dabei online das Geld aus der Tasche wie damals die räuberischen Wegelagerer im Mittelalter und in der Neuzeit auf den Pfaden durch den dunklen, unübersichtlichen Wald. Global agierende Internetfirmen bieten quasireligiöse Inhalte an wie früher allmächtige Religionsgemeinschaften. Wir folgen als Gläubige fast kritiklos, weil wir darin irgendwie eine Art Gemeinschaft erfahren und ohne sie nicht mehr leben können. Dabei merken wir nicht, wie unsere Persönlichkeit ausgehorcht und für den Kommerz beeinflusst wird. Wenn wir uns selbst schon nicht wirklich kennen und verstehen, Google und Konsorten, die wissen im Detail über uns Bescheid und lenken uns in ihrem Gewinnstreben wie einst der Papst in Rom vor tausend Jahren. Demokratisch legitimierte Regierungen handeln ebenso im Geiste totalitärer Staaten und horchen jedwede Kommunikation aus. Kritiker und Journalisten, die darauf hinweisen, werden nicht entsprechend gewürdigt, sondern rücksichtslos verfolgt wie die Cameron-Regierung im Fall des Guardian beispielhaft vor Augen führt. Das  Strafmaß gegen Bradley Manning belegt eindrucksvoll, dass Whistleblower, die die Menschenwürde bewahrt und Straftaten aufgedeckt haben, härter bestraft werden, als Vergewaltiger, die körperliche und sexuelle Gewalt und Erniedrigung gegen Andere ausgeübt haben. Die digitale Welt wird derartig missbraucht, als ob es die Inquisition, die Schriften von Kant, das 3. Reich, die DDR und einige andere nicht unbedeutende Schriften und Zeitphasen mit nachhaltiger Erfahrung nie gegeben hätte. Warum kann das so geschehen?

Das Internet ist eine neue und völlig unbekannte Dimension, in der wir interagieren. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel hat für ihre Aussage „Das Internet ist für uns alle Neuland“ einigen Spott über sich ergehen lassen müssen. Sie hatte aber damit völlig recht, wie man nun langsam „schmerzhaft“ feststellen kann. Hierin unterscheide ich mich übrigens komplett in meiner Meinung vom oben zitierten Sascha Lobo. Es geht schließlich nicht darum, wie und ob ich twittern kann, sondern was mit dem Inhalt anschließend geschieht, den ich getwittert habe. Schließlich ist es in keinster Weise einfach, die als selbstverständlich hingenommenen Rechte und Gesetzte der analogen Welt auch in der digitalen Welt durchzusetzen. Das haben einige besserwissende Nerds leider in ihrem Hohn übersehen. Wie aber können wir angesichts der technischen Möglichkeiten im Internet kommunizieren, ohne unsere demokratischen Werte über Bord zu werfen? Hinzu kommt sogar in Zukunft die mögliche Überwachung in der analogen Welt durch automatische Gesichtserkennung über Kameras auf öffentlichen Plätzen. Ganz abgesehen von den käuflich zu erstehenden Drohnen, mit deren Hilfe ferngesteuert auch das Innere von Häusern ausgespäht werden kann.

Die meisten von uns überfordert es, sich die technischen Hintergründe der digitalen Sphäre vorzustellen. Man kann es nicht in die Hand nehmen, nicht direkt die Ursache und Wirkung nachvollziehen, wie es bei einem analogen Verbrechen leichter fällt. Es fehlt schlicht das Vorstellungsvermögen, was alles technisch möglich ist, was konkret geschieht und daher kann auch nicht darauf reagiert werden. Vereinfacht ausgedrückt kann ich nur einen Nagel in einen Holzbalken schlagen, den ich in der Hand halte. Genauso kann ich nur gegen etwas Imaginäres vorgehen, das ich auch gedanklich erfasst habe. Das Vorgehen der Internetfirmen, der Geheimdienste und Hacker ist aber im Allgemeinen nur sehr schwer zu verstehen; bislang jedenfalls. Hier gilt es von medialer Seite aus, ohne Unterlass Aufklärungsarbeit zu leisten. Wenn weiter kontinuierlich die digitale Welt erklärt wird und nach und nach mehr Menschen die Vorgänge begreifen, wenn aus dem „Neuland“ ein gesellschaftlich erschlossenes Gelände wird, dann halte ich es nicht für aussichtslos auch in der digitalen Dimension demokratische Normen und Verhalten einzuführen. Aber es wird, denke ich, ein langer, schmerzhafter Weg werden.