Einerlei: Bundespräsidentenkandidatenkür

Was wollen wir eigentlich? Die aktuelle Diskussion um die Kandidatur von Joachim Gauck zur anstehenden Wahl des Bundespräsidenten gestaltet sich doch mittlerweile sehr seltsam. Jede, aber wirklich auch jede einst geäußerte Stellungnahme Gaucks wird zunächst dezidiert Wort für Wort seziert und anschließend daraus seine Gesinnung interpretiert. Danach wird behauptet, wegen dieser Gesinnung ist diese Person nicht gerne im Amt des Bundespräsidenten gesehen. Oder der Lebenswandel Gaucks wird genau beobachtet und für einen Bundespräsidenten nicht für opportun erachtet. Nein, so geht das nicht: Gauck muss seine Lebenspartnerin heiraten! Was sollen denn bei Staatsbesuchen die First Ladies von den USA oder von Burkina Faso angesichts eines unverheirateten Bundespräsidentenpaars sagen?

Ich selbst bin ebenfalls nicht ganz eins mit Joachim Gauck. Ich persönlich nehme es ihm übel, dass er bezüglich des neuen Stasi-Unterlagengesetzes, in dem die Abordnung der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter aus der Stasi-Unterlagenbehörde in andere Bundesinstitutionen veranlasst wird, in einem Fernsehinterview in Richtung Roland Jahn nachgetreten hat. Gauck ist immerhin derjenige, der es – ob bewusst oder unbewusst, sei dahin gestellt – unterlassen hat, die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter sofort zu entlassen; zu einem Zeitpunkt, zu dem dies frei nach Gesetzeslage möglich gewesen wäre. Nun hat Roland Jahn als neuer Behördenleiter es gegen vielerlei, emotional gestimmte Widerstände durchgesetzt, dass die besagten Mitarbeiter zumindest nicht mehr in der Behörde arbeiten können. Dort wo sie auf ihre ehemaligen Opfer treffen bzw. Opfer gegebenenfalls wieder ihren ehemaligen Widersachern, Gegnern, Peinigern gegenüberstehen mussten. Joachim Gauck ist sich in dieser Situation nicht zu schade, hierauf ostentativ kundzutun, dass er durchaus mit Missmut das neue Stasi-Unterlagengesetz wahrgenommen habe. Die ehemaligen Mitarbeiter hätten sich schließlich in den vergangenen zwanzig Jahren in ihren Tätigkeiten „bewährt“. Wie jedoch Herr Gauck die angebliche „Bewährung“ von Mitarbeitern misst, bleibt offen. Indem diese immer pünktlich morgens zur Arbeit erscheinen, den Tag über sich ruhig in den Räumlichkeiten der Behörde aufhalten und erst zum Dienstende diese wieder verlassen? Nicht nur im Öffentlichen Dienst ist es meist sehr schwer zu beurteilen, wie viel Leistung ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin tatsächlich bringt oder doch eher Schaden verursacht. Dagegen ist es sehr leicht, so zu tun, als ob sehr viele Ergebnisse geliefert würden. Grundsätzlich denke ich nicht, dass diese Aussage Gaucks auf irgendwelchen empirischen Studien basiert, sondern vermute, dass dies lediglich eine pauschale Schutzbehauptung von Herrn Gauck ist, ohne dass er vorher zu dieser Frage eine entsprechende Untersuchung innerhalb der Behörde hat vornehmen lassen. Eine Bewährung von Mitarbeitern ist außerdem kein triftiges Argument, wenn es hier um generelle Gerechtigkeit gegenüber den Opfern der Stasi geht. Zum ersten hätte er also besser geschwiegen und nicht seinen Amts-Nachfolger gerügt. So etwas tut man als integere Person einfach nicht! Zum zweiten vergisst Herr Gauck außerdem bei dieser Argumentation völlig die Opfer der Stasi-Machenschaften aus den Augen. Das passt nicht nur nicht zum ehemaligen Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, sondern ist m. E. zudem schlicht ungerecht.

Aber was soll’s. Niemand ist frei von Fehlern. Seine Äußerungen zur Occupy -Bewegung, zum Afghanistan-Krieg und zu Thilo Sarrazin sind bei genauer Betrachtung seiner Worte durchaus legitime Beiträge zu einer kritischen Diskussion innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft. Joachim Gauck äußert sich grundsätzlich frei, frei nach seinem Motto „Freiheit als Verantwortung“. Soll heißen, jede Person ist für ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheit individuell selbst verantwortlich. Zu diesem Thema kann Gauck sehr begeisternd referieren. Jedoch spüren einige Bürger und Politiker im Auftreten und in den Verlautbarungen von Joachim Gauck einen gewissen Mangel. Der Theologe Friedrich Schorlemmer aus Wittenberg, der seit 1986 sporadisch auf Gauck getroffen war, hat diesen Mangel sehr treffend in Worte gefasst. Joachim Gauck müsse seine thematische Bandbreite erweitern, denn zur Freiheit gehöre immer auch Gerechtigkeit. Schöner hätte man meinen, zuvor genannten Kritikpunkt zum Verhalten bezüglich des Stasi-Unterlagengesetzes kaum formulieren können.

Ich bleibe dabei: niemand ist ohne Fehler. Sind diese nicht zu gravierend, bewegen sich innerhalb des gesellschaftlich akzeptablen Rahmens und verstoßen vor allem nicht gegen Gesetze, so sind diese auch als Ecken und Kanten zu betrachten, die positiv anregend wirken können. Auf diese Weise finden, so hoffe ich, verstärkt Diskussionen mit fruchtbaren Ergebnissen statt. Voraussetzung hierfür ist allerdings auch, dass Joachim Gauck selbst ebenfalls dazulernt und nicht steif bei einmal geäußerten, irreführenden Ansichten verharrt. Insofern kann uns Gauck als Bundespräsident nutzbringend neue Anstöße liefern. Oder wünschen wir uns etwa nur Langweiler wie den wandernden Karl Carstens oder den singenden Walter Scheel als Bundespräsidenten? Mit Christian Wulff sind wir gerade so einen Langweiler wieder losgeworden, der nicht das Format hatte, seinen Anstoß in Bezug auf die Integration des Islam in die bundesdeutsche Gesellschaft, auch intellektuell zu unterfüttern.

Außerdem, was für einen Heiligen wollen die politischen Parteien denn als obersten Repräsentanten der Nation aufstellen? Gibt es einen solchen überhaupt? Dann lassen wir doch lieber das Bundespräsidialamt unbesetzt. Was für hehre Maßstäbe werden plötzlich von allen Seite aufgestellt! Die Partei die Linke macht sich lächerlich, indem sie plötzlich, der Einschätzung Schorlemmers folgend, nur einen Präsidenten haben möchte, der unbedingt die Gerechtigkeit zum Leitthema hat. Sie weiß ja nun, dass Gauck hierin Schwächen zeigt und spricht ihm damit gleichzeitig die Fähigkeit ab dazuzulernen. Diese Reaktion ist ja auch nur dadurch zu erklären, weil die Linke nicht in der fraglichen Entscheidungsnacht im Sandkasten „Bundeskanzleramt“ mitspielen durfte. Auf der anderen politischen Seite fordert der CSU-Politiker Norbert Geis ungeniert, dass Joachim Gauck seine Lebensgefährtin Daniela Schadt heiraten solle. Ja, wo leben wir denn und welche Normen werden hier immer noch hoch gehalten? Nach einem solchen antiquierten Normengerüst hätte sich Bettina Wulff als Bundespräsidentengattin ihr Tatoo entfernen lassen müssen. Und konsequenterweise dürften dann auch keine lesbische Bundespräsidentinnen oder schwule Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue einziehen. Denn eine adäquat-gleichgestellte Heirat mit allen Rechten und Pflichten wie bei den Heteros ist Schwulen und Lesben bis heute nicht vergönnt. D.h. Herr Geis schließt aufgrund seines Werteschemas bestimmte Gruppen der Gesellschaft vom Amt des Bundespräsidenten aus. Das ist durchaus als skandalös zu bezeichnen!

Nun gehe ich davon aus, dass Joachim Gauck in der Bundesversammlung zum Bundespräsidenten gewählt werden wird, ob er nun heiratet oder nicht. Alles läuft darauf hinaus. Dabei drängt sich jetzt natürlich die Frage auf, warum Gauck nicht bereits vor zwei Jahren gewählt worden ist? Man hätte sich eventuell sehr viel Schaden für das Amt sparen können. Die Linke hatte ihn übrigens bereits damals nicht bei der Wahl unterstützt. Nun stelle man sich aber vor, Joachim Gauck wäre damals schon zum Bundespräsidenten gewählt worden und hätte in dieser Funktion das neue Stasi-Unterlagengesetz unterschreiben müssen. Er hätte mit der abschließenden Unterschrift, womit das Gesetz rechtsgültig wird, seinen eigenen Fehler beurkunden und somit selbst eingestehen müssen. Hätte er dies getan? Vielleicht können wir nach einer Amtsperiode von Joachim Gauck als Bundespräsident diese Frage einmal beantworten.